Johanna Vennemann

MUTTER-SPRACHE ODER DIE GERETTETE ZUNGE

This article was presented on 11 August 2022 at Siavoushan Centre

“Zeig die Zunge! Jetzt schneiden wir ihm die Zunge ab … Heute noch nicht, morgen.“

Dies sind die Worte der ersten Erinnerung, vielleicht auch Deckerinnerung von Elias Canetti, Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger.

Er sieht sich im Alter von zwei Jahren in den Armen seines Kindermädchens von einem Mann, dem geheimen Liebhaber des Mädchens, mit einem Messer welches dieser öffnet und wieder zuklappt, bedroht.

Jeden Morgen wird diese Szene wiederholt und der vor Furcht zitternde kleine Junge gehorcht und streckt seine Zunge aus.

„Die Drohung mit dem Messer hat ihre Wirkung getan, das Kind hat zehn Jahre darüber geschwiegen.“ schreibt Canetti.

Worüber hat er seinen Mund gehalten, seine „Zunge im Zaum gehalten“, und sie so gerettet, ohne zu wissen warum? Er hat ein Geheimnis, das die Erwachsenen mit dem sexuellen Begehren verbinden würden, nicht ausgeplaudert.

Mit dieser Episode beginnt Elias Canetti seine Autobiographie DIE GERETTETE ZUNGE, zufällig stieß ich auf die englische Version dieses Buches, deren Titel noch intriganter THE TONGUE SET FREE, buchstäblich die befreite Zunge lautet, eine Übersetzung, die auch eine Interpretation ist.

Einem Schriftsteller können wir das Spielen mit einem Sprachen-Übergreifenden Doppelsinn unterstellen. Im Englischen haben wir MOTHERTONGUE (Mutterzunge), da wo im deutschen der Gebrauch von Zunge im Sinne von Sprache uralt ist. Aber auch im Englischen wird TONGUE nur im Zusammenhang mit MOTHERTONGUE gebraucht, sonst heißt es LANGUAGE.   In den lateinischen Sprachen, geht das körperliche Element sogar in das Sprachliche Übertragene über: ein Wort, LANGUE oder LINGUA bedeutet beides, Zunge und Sprache.

Doch auch bei uns im Deutschen gibt es, wenn wir nachforschen und hinhören noch viele Ausdrücke, die Zunge und Sprache ineinander übergehen lassen. Vor längerer Zeit gab es einen amüsanten Artikel in der taz: „Von Wörtern und anderen Bissen“ (Burkhard Brunn, taz 21.10.03)

Ich zitiere:

„Dass wir unsere Zungen sowohl zum Schmecken wie zum Sprechen benutzen, ist eine große Merkwürdigkeit unserer körperlichen Konstitution. ….  Der Charakter der Zunge ist zwiespältig. Denn sie wälzt nicht nur Essbares, sondern auch Worte. Man spricht darum von „Ländern deutscher Zunge“, und lingua, lengua und langue bedeuten beides: Zunge und Sprache. … Wie hübsch ist doch die Redewendung „Ich hab es auf der Zunge“. Man kann sich dabei ein kleines schlaues Wort vorstellen, das auf der Zungenspitze steht wie auf einem Sprungbrett… Das gesprochene Wort umrundet als Signifikant (auf den Signifikanten kommen wir noch zurück) die Speise als sein materielles Substrat“.

Es gibt noch einige weitere interessante Funde in diesem Artikel, zum Beispiel die Erwähnung der Tatsache, dass die alten Römer aus „schmecken“, sapere, das Wort für sapientia, also Klugheit, Weisheit bildeten; im heutigen italienisch steht sapore für Geschmack und sapere für Wissen. Burkhard Brunn kommentiert „Danach muss man, um wirklich klug zu sein, die Dinge auf der Zunge gehabt, muss sie geschmeckt haben.“

Wir sagen, man muss sie gesprochen haben, ohne Sprechen kann es kein Wissen geben.

Und mehr noch: nur weil es Sprache gibt, gibt es ein Unbewusstes.

Aus kirchlichen Zusammenhängen kennen wir den Gesang der Engel und noch heute versuchen wir, jemanden mit „Engelszungen“ zu verführen. Auch in der Bibel finden wir schon das Wort Zunge an Stelle des der Sprache: wenn der Heilige Geist auf die Apostel niederkommt, können sie in allen Zungen reden. Das impliziert, dass es keinen Fremden mehr gibt, keinen anderen Anderen außer Gott.  Die deutsche Sprache sagt uns deutlich, das Wort ist Fleisch geworden – eine unmögliche Kopulierung, die jeglichen Unterschied, jeglichen Schnitt eliminiert.

Kommen wir aber zu Canetti:

Elias Canetti schreibt in Deutsch. Das Besondere an der deutschen Sprache ist, dass man die ständige Präsenz des Körpers in den Worten hören kann. So fällt bei verschiedenen Titeln seiner Bücher der Bezug zu den Sinnesorganen auf; zum Ohr: „Die Fackel im Ohr“, zweiter Band seiner Autobiographie, und „Der Ohrenzeuge“; zum Auge: „Das Augenspiel“ Band drei der Autobiographie und „Die Blendung“, und dann zur Stimme: „Die Stimmen von Marrakesch“; Es gibt aber auch Titel wie: „Das Gewissen der Worte“, oder „Wortmasken“.

Kann das darauf zurück zu führen sein, dass Deutsch für Canetti eine „spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache“ ist?

Es ist seine Geschichte, die uns auf die Spur dessen bringt, was Muttersprache heißt und bedeuten kann.

Elias Canetti wurde in einem Ort Namens Rustschuck in Bulgarien geboren. Dort war es normal, am gleichen Tag bis zu 8 verschiedene Sprachen zu hören, ja es war lebensnotwendig, mehrere Sprachen zu sprechen.

In seiner direkten Umgebung wurde bulgarisch gesprochen, in seiner Familie aber eine Art altertümliches Spanisch, denn sie sind aus Spanien stammende Juden, SPAGNIOLI genannt. Sie sind sehr stolz auf ihre Herkunft und möchten vor allem von den deutschen Juden, TODESCO genannt, unterschieden werden. Schon das Wort selbst TODESCO wird mit Verachtung ausgesprochen, und es wäre unmöglich sich vorzustellen, dass einer aus ihrer Familie gar eine TODESCA heiraten würde.

Umso bemerkenswerter ist nun aber, dass die geheime Liebessprache von Elias Eltern Deutsch ist. Sie hatten sich in Wien kennen und lieben gelernt. Jeden Abend, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam, eilte er als erstes zu seiner Frau, die ihn ungeduldig erwartet hatte, und sprach mit ihr in dieser für den Sohn fremden Sprache, die er nicht nur nicht verstand, sondern nicht verstehen sollte.  Er spürte, dass die Eltern glücklich waren, wenn sie so sprachen – über Theater und Literatur – weiß Canetti später zu berichten. Das einzige verständliche Wort, das sie ihm überließen ist das eines Ortes: Wien.

(Zitat S. 38: )„Ich hatte oft guten Grund, mich ausgeschlossen zu fühlen, wenn die Eltern mit ihren Gesprächen anfingen. Sie wurden überaus lebhaft und lustig dabei und ich verband diese Verwandlung, die ich wohl bemerkte, mit dem Klang der deutschen Sprache. Ich hörte ihnen mit der größten Anspannung zu und fragte sie dann, was dies oder jenes bedeute. Sie lachten und sagten, es sei zu früh für mich, das seien Dinge, die ich erst später verstehen könne“.

Sagen das die Eltern nicht auch, wenn das Kind anfängt nach dem sexuellen Hintergrund seiner Herkunft zu fragen, nach dem Begehren, das seiner Existenz zu Grunde liegt?

„Ich glaubte, dass es sich um wunderbare Dinge handeln müsse, die man nur in dieser Sprache sagen könne. Wenn ich lange vergeblich gebettelt hatte, lief ich zornig davon, in ein anderes Zimmer, das selten benutzt wurde, und sagte mir die Sätze, die ich von ihnen gehört hatte, her, im genauen Tonfall, wie Zauberformeln, ich übte sie oft für mich und sobald ich allein war, ließ ich alle Sätze oder auch einzelne Worte, die ich eingelernt hatte, hintereinander los, so rasch, dass mich sicher niemand verstanden hätte. Ich hütete mich aber davor, die Eltern das je merken zu lassen, und erwiderte ihr Geheimnis mit meinem.“     

Wie kann es uns da erstaunen, dass es der heißeste Wunsch des kleinen Jungen ist, diese verbotene Sprache zu verstehen. Allein in einem leeren Zimmer versucht er, die Laute der Worte, des Gesprochenen aber nicht Verstandenen zu wiederholen. Nicht gegen den Vater, sondern gegen die Mutter hegte er einen Groll, dass sie ihn aus den Liebesgesprächen ausschloss. So, auf diese Art, schreibt Elias sich auch ins Ödipale ein.

In seinem Fall ist die Sprache dieser Stimme doppelt fremd, d.h. ausländisch und fremd, feindlich und verpönt. Die deutsche Sprache, und alles was mit TODESCO zu tun hat, wird von der Familie mit Feindseligkeit bedacht. Vor allem aber bezeichnet sie – genau in dem Moment, in dem der Vater erscheint – ein „Anderswo“ des Begehrens der Mutter und nimmt sie von ihrem Sohn fort.

Wenn wir sagen, ein Kind sucht das Objekt seines Begehrens in der Mutter, so scheint im Falle des kleinen Elias dieses Objekt eine fremde Sprache zu sein. Und gleichzeitig ist die Sprache ein phonetischer Klang, von dem die Stimme bleibt. Die Stimme ist eines der Objekte, die Ursache des Begehrens sind, neben der Brust, dem Kot und dem Blick. Sie sind dies als verlorene, vom Körper abgetrennte Objekte – Abfälle.

Als Elias sieben Jahre alt ist, stirbt der Vater. Die Mutter hatte das Ohr des Vaters verloren, schreibt Canetti, und:

S. 102 Der furchtbare Schnitt in ihrem Leben, als sie 27jährig das Ohr meines Vaters verlor, drückte sich am empfindlichsten darin aus, dass ihre Liebesgespräche mit ihm verstummt waren. In dieser Sprache hatte sich ihre eigentliche Ehe abgespielt. Sie wusste sich keinen Rat, sie fühlte sich ohne ihn verloren, und versuchte so rasch wie möglich, mich an seine Stelle zu setzen. … später begriff ich, dass es nicht um meinetwillen geschah, dass sie mir deutsch unter Hohn und Qualen beibrachte. Sie selbst hatte ein tiefes Bedürfnis danach, mit mir deutsch zu sprechen, es war die Sprache ihres Vertrauens.“

Er, der älteste Sohn, ist der Auserwählte, der deutsch mit ihr sprechen soll, der es von und mit ihr lernen soll. Und sie bringt es ihm bei wie eine „wirkliche“ Muttersprache, indem sie nur mit ihm spricht, ohne zu übersetzen, Sätze aus der Grammatik vorliest, sie nur einmal erklärt und von ihrem Sohn verlangt, dass er sie wiederholt, versteht und behält. Sie gibt ihm weder das Buch, aus dem sie liest, noch erlaubt sie ihm auch nur einen Blick hineinzuwerfen. Es ist eine Qual für den kleinen Jungen. Nun ist das verbotene und am heißesten begehrte Objekt für ihn ein Buch, die darin geschriebenen Buchstaben. Schon als er noch ein sehr kleiner Junge war, hatte der Vater ihm die Bedeutung, die Wichtigkeit der geschriebenen Sprache, der gedruckten Buchstaben vermittelt. So setzt Elias nun alles daran, dieses Buch mit den deutschen Buchstaben zu erhalten. Als es ihm mit Hilfe seines Kindermädchens gelingt, die Mutter davon zu überzeugen, dass er das Schreiben der deutschen Buchstaben erlernen will, bekommt er endlich das Buch. Nun ist er von seinen Qualen befreit und Deutsch kann zur Sprache der Liebe zwischen ihm und seiner Mutter werden – Canetti fügt hinzu:  „und was für eine Liebe“    

S. 102 „… eine unter wahrhaften Schmerzen eingepflanzte Muttersprache. Bei diesen Schmerzen war es nicht geblieben, gleich danach erfolgte eine Periode des Glücks, und das hat mich unlösbar an diese Sprache gebunden. Es muss auch den Hang zum Schreiben früh in mir genährt haben, denn um das Erlernen des Schreibens willen, hatte ich ihr das Buch abgewonnen und die Wendung zum Besseren begann eben damit, dass ich deutsche Buchstaben schreiben lernte.“  

Hier entsteht seine Liebe für Bücher, hier wird sein Talent zum Schreiben genährt. Als Schriftsteller, deutsch schreibend, begibt Elias Canetti sich auf die Suche nach dem, was von dem Vater als das unbekannte Begehren der Mutter zeichnet, und was in einer fremden Sprache ausgedrückt worden war. In dieser Sprache wird er sein Talent verwirklichen!  Reste des Begehrens der Mutter?

Immerhin muss das, was in uns durch das Begehren der Mutter lebendig gemacht wird, als Begehren des Anderen anerkannt, angenommen werden. Bei Canetti hat das Schreiben seine Sprache – seine Zunge, wie wir gehört haben – befreit. Als Schriftsteller wird er versuchen, die fremde Sprache und vielleicht auch das fremde Begehren der Mutter zu erfassen, zu be-herrschen, immer wieder umzugestalten, sich eigen zu machen.

Ein Beispiel, was es mit Signifikanten des Begehrens auf sich haben kann, möchte ich Ihnen vorlesen und zwar aus Canetti selbst:

„S. 58 An seiner (des Freundes) Stelle wurde ein kleines Mädchen neben mich gesetzt, Mary Handsome. Ich schloss sie gleich … ins Herz. Ihr Name, der ´hübsch´ bedeutet, wunderte mich, ich wusste nicht, dass Namen etwas bedeuten könnten. … das Schönste an ihr waren ihre roten Backen, ´wie Äpfelchen´. Wir sprachen gleich miteinander und sie antwortete auf alles, aber auch, wenn wir nicht sprachen, während der Schulstunden, musste ich sie immer ansehen. Ich war von ihren roten Backen so sehr verzaubert … ich wollte die roten Backen küssen und musste mich zusammennehmen es nicht zu tun. Nach der Schule begleitete ich sie … bis zur Ecke der Strasse, in der sie wohnte, küsste sie rasch auf die Backe und lief eilig nach Hause, ohne jemand ein Wort davon zu sagen. …solange ich sie bloß zum Abschied an der Ecke küsste, geschah nichts, vielleicht schwieg auch sie zu Hause darüber. Aber meine Neigung wuchs, die Schule interessierte mich nicht mehr, ich wartete auf den Augenblick, da ich neben ihr gehen würde, und bald wurde mir der Weg bis zur Ecke zu lang und ich versuchte, sie schon vorher auf die rote Backe zu küssen. Sie wehrte sich und sagte, „Du darfst mich erst an der Ecke küssen, zum Abschied, sonst sag ich´s meiner Mutter“. …  Am nächsten Tag riss mir die Geduld und ich küsste sie gleich, als wir auf der Strasse waren. Um ihrem Zorn zuvorzukommen, wurde ich selber zornig und sagte drohend „Ich werde dich küssen, so oft ich will, ich warte nicht bis zur Ecke. Sie versuchte davonzulaufen, ich hielt sie fest, wir gingen einige Schritte weiter, ich küsste sie wieder, ich küsste sie immer wieder bis zur Ecke. Sie sagte nicht good-bye als ich sie endlich losließ, sie sagte nur „Jetzt sag ich´s der Mutter.“ Ich hatte keine Angst vor ihrer Mutter, meine Passion für ihre roten Backen war nun so groß, dass ich zuhause zum Staunen unserer Gouvernante laut sang: „Little Mary is my sweetheart! Little Mary is my sweetheart!“

Nun, little Mary erzählt es wirklich ihrer Mutter, die am nächsten Tag in der Schule erscheint … und … Elias noch besser gefällt als die Tochter! Er hat keine Angst vor ihr und ist ganz beeindruckt als diese nicht zornig, aber sehr bestimmend zu ihm sagt

„Du wirst die kleine Mary nicht mehr nach Hause begleiten“ Ich nahm es ihr nicht übel, sie war wie ihre Tochter, die ich hinter ihr gar nicht sah, aber an ihr gefiel mir alles, nicht nur die Wangen, besonders gefiel mir ihre Sprache… Das war das Ende dieser Geschichte… ich weiß nicht, was Mary später auf der Schule tat… meine Erinnerung besteht für die Zeit, in der ich sie küsste…

Ich habe später über diese junge Liebe nachgedacht, die ich nie vergaß, und eines Tages fiel mir das erste spanische Kinderlied ein, das ich in Bulgarien gehört hatte. Ich wurde noch auf den Armen getragen und ein weibliches Wesen näherte sich mir und sang „MANZANICA COLORADOS; LAS QUE VIENEN DE STAMBOL“ – „Äpfelchen rote, die kommen von Stambol“, dabei kam sie mit dem Zeigefinger immer näher und stieß ihn plötzlich fest in meine Wange hinein. Ich quietschte vor Vergnügen, sie nahm mich in die Arme und küsste mich ab. Das passierte so oft, bis ich das Lied selber singen lernte. Dann sang ich es mit, es war mein erstes Liedchen… Vier Jahre später fand ich meine Äpfelchen in Mary wieder, die kleiner war als ich, und ich wunderte mich nur, dass ich den Finger nicht in ihre Wangen stieß, bevor ich sie küsste ….“

Müssen wir da noch viel hinzufügen – erzählt Canetti uns nicht selber, wie es um die Verliebtheit als Identifizierung mit einem „einzigen Zug“ steht? Einem Zug, der noch dazu in den Signifikanten eines ersten Liedes ge- beschrieben ist.

Ich habe mich so ausführlich mit der Geschichte Elias Canettis befasst, weil sie sehr eindrücklich zeigt, was Muttersprache sein kann.

Die Sprache, in die wir hineingeboren werden heißt Muttersprache, weil wir uns, wenn wir sprechen, immer an jenen Anderen, der unsere Mutter gewesen ist, wenden. Das Schreien des Neugeborenen wird zum Anspruch, sobald es an den Anderen gerichtet ist, können wir in Freuds ENTWURF lesen. Dann kann die Sprache zunächst durch den Mund der Mutter geboren werden. Sie wird das Schreien interpretieren und mit Worten, d.h. Wünschen belegen: ‚du bist hungrig, tut dir was weh, du musst schlafen’, denn sie kann nichts anderes tun, sie kann nur von dem ausgehen, was sie sich selber als wünschenswert vorstellt, sie kann nur raten, was ihr Kinde schreien macht, was ihr Kind „will“, „braucht“, „möchte“ oder „wünscht“. Auf diese Art führt sie es in den Code ihrer Sprache und ihres Wünschens ein, der die Basis für das spätere Sprechen des Kindes sein wird. Wie ein Menschenwesen weitersprechen wird, hängt zum einen davon ab, auf welche Weise seine ersten Ansprüche empfangen, Willkommen geheißen wurden, und zum anderen dann davon, wie es dieses Sprechen zu seinem eigenen macht. Bei dem, was ich Ihnen hier sage, möchte ich betonen, dass ich von den subjektiven Strukturen, die sich im Unbewussten verankern spreche. 

Andererseits ist die Muttersprache die Sprache eines Landes, meist des Geburtslandes, die durch und von der Mutter als ihrem Agenten gehandhabt, manipuliert, neu gedacht und zensuriert wird. Es ist die Sprache, die das „INFANS“ d.h. das noch nicht zur Sprache geborenen Kind, von diesem ersten realen, körperlichen Anderen und von diesem ersten symbolischen, sprechenden Anderen, die die Mutter ist empfängt.

Wenn wir weiter anstatt Sprache und Sprechen das uralte Wort „Zunge“ benutzen, können wir direkt hören, dass der Andere, der Ort des Wortes und auch der Körper ist, vor allem aber zunächst einmal der Körper der Mutter. 

Ich möchte jetzt an dieser Stelle kurz auf einen außergewöhnlichen, 1922 von Sabina Spielrein geschriebenen Artikel eingehen. Sie wissen vielleicht, dass Sabina Spielrein, russische Analytikerin, Jungs Patientin und Freuds Schülerin war. 

Der Aufsatz lautet: „Die Entstehung der kindlichen Worte Papa und Mama“ (1922 S.S. Sämtliche Schriften, Kore Verlag 1987) und handelt von nichts anderem als von der Geburt des Signifikanten. Eine der Definitionen von Signifikant ist: Phoneme, die dadurch zu Signifikanten werden, dass ihnen andere Phonemen entgegengestellt werden.

Sabina Spielrein beginnt mit folgenden Fragen „woher kommt es, dass bei Kindern aller Völker gleiche, respektive lautlich ähnliche Bezeichnungen für Vater und Mutter zu finden sind, Papa und Mama. Woher kommt es, dass dies die ersten kindlichen Worte sind, oder vielleicht richtiger, dass sie als solche gelten? Wie kommt es überhaupt, dass ein vom Kind produzierter Laut Wortbedeutung erhält?“         

Sabina Spielreins These ist, dass das Wort Ma-Ma oder Moe-Moe, aus dem Laut des Mundes entsteht, wenn das Kind anfängt, an der Mutterbrust zu saugen. Dieser Laut ist eine Art von m…m… welches prompt von der Mutter als Mama gehört, und so mit einem Vokal versehen, verwandelt und übersetzt an das Kind zurückgeschickt wird. Auf die gleiche Weise ist PP DD oder ähnliches abzuleiten von der Bewegung des Mundes des Säuglings, wenn es gesättigt ist und aufhört zu saugen. So könnte dieser Laut sofort als PAPA gehört verwandelt und zurückgeschickt werden. Sabina Spielrein fügt hinzu: „daher ruft das Kind Mama, wenn es traurig, unzufrieden, d.h. hungrig ist, und Papa wenn es zufrieden sprich satt ist“.

Einige von ihnen spitzen hier vielleicht die Ohren und erinnern sich an eine andere „Geburt des Signifikanten“ als Gegenüberstellung von Lauten: Ich beziehe mich auf Freuds Beobachtung seines Enkels, von der er in JENSEITS DES LUSTPRINZIPS berichtet, d. h. das FORT – DA Spiel. Freud Schreibt:

„ich … konnte … das erste selbst geschaffene Spiel eines Knaben im Alter von 1,5 Jahren aufklären. Es war mehr als eine flüchtige Begegnung, denn ich lebte durch einige Wochen mit dem Kinde und dessen Eltern unter einem Dach…

Das Kind war in seiner intellektuellen Entwicklung keineswegs voreilig, es sprach mit 1,5 Jahren nur wenige verständliche Worte und verfügte außerdem über mehrere bedeutungsvolle Laute, die von der Umgebung verstanden wurden. Aber es war in gutem Rapport mit den Eltern … und wurde wegen seines „anständigen“ Charakters gelobt. … es befolgte gewisse Verbote… vor allem aber weinte es nie, wenn die Mutter es für Stunden verließ, obwohl es der Mutter zärtlich anhing, die das Kind nicht nur selbst genährt, sondern auch ohne jede fremde Beihilfe gepflegt und betreut hatte. Dieses brave Kind zeigte nun die gelegentlich störende Gewohnheit, alle kleinen Gegenstände, derer es habhaft wurde, weit weg von sich in eine Zimmerecke unter ein Bett usw. zu schleudern, …. Dabei brachte es mit dem Ausdruck von Interesse und Befriedigung ein lautes, lang gezogenes o-o-o- hervor, das, nach dem übereinstimmenden Urteil der Mutter und des Beobachters, keine Interjektion war, sondern „fort“ bedeutete. Ich merkte endlich, dass das ein Spiel sei und dass das Kind alle seine Spielsachen nur dazu benützte, mit ihnen „fortsein“ zu spielen. Eines Tages machte ich dann die Beobachtung, die meine Auffassung bestätigte. Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden   umwickelt war. Es fiel ihm nie ein, sie zum Beispiel am Boden hinter sich herzuziehen, also Wagen mit ihr zu spielen, sondern es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so dass sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles „o-o-o“ und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen „Da“. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zunächst nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die grössere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing … Diese Deutung wurde dann durch eine weitere Beobachtung völlig gesichert. Als eines Tages die Mutter über viele Stunden abwesend gewesen war, wurde sie beim Wiederkommen mit der Mitteilung begrüßt: „Bebi o-o-o-o!“, die zunächst unverständlich blieb. Es ergab sich aber bald, dass das Kind während dieses langen Alleinseins ein Mittel gefunden hatte, sich selbst verschwinden zu lassen. Es hatte sein Bild in dem fast bis zum Boden reichenden Standspiegel entdeckt und sich dann niedergekauert, so dass das Spiegelbild „fort“ war. …“    

Ich möchte hier auf einen wesentlichen Punkt dieses Spiels hinweisen: Selbst, wenn das Kind großes Vergnügen an der Wiederkunft der Spule findet, beweist die Existenz des anderen Teils des Spieles, bei dem die Objekte nicht wieder zu sich ran geholt werden, dass der Akzent auf die Wiederholung einer Trennung, eines Verlustes gelegt wird. Aber dieser Verlust ist mehr strukturell der Verlust der direkten Beziehung mit dem Ding, bei gleichzeitigem Zugang zur Sprache. Das Wort ist der Tod der Sache. Von dem Moment an, in dem das Kind spricht – und im Alter von 18 Monaten ist es hierfür im Besitz des Wesentlichen, einem Paar von Phonemen, die sich einander entgegensetzen – verzichtet das Subjekt auf die Sache, vor allem auf die Mutter als erstes Objekt des Begehrens. Seine Befriedigung geht durch die Sprache und man kann sagen, sein Begehren erhebt sich zu einer zweiten Macht, denn von nun an ist das, was das Objekt darstellt die Aktion selbst – das verschwinden und erscheinen lassen –. Da ist die Wurzel des Symbolischen, da wo die Abwesenheit in der Anwesenheit und die Anwesenheit in der Abwesenheit hervorgerufen, evoziert wird.

Könnte man sagen, dass es nichts anderes mütterliches gibt als die Sprache, die Muttersprache?

Wie aber sprechen die Mutter-Sprachen, im Sinne des mütterlichen Sprechens?

Die Mutter des Psychotikers spricht, als sei ihr Kind noch und für immer in ihrem Körper eingeschlossen. Eine Sprache genügt für beide, Mutter und Kind. Kein PATRIO SERMO, juristischer Ausdruck, hat sich diesem PARLAR MATERNO entgegengesetzt. Keine dritte Person, kein Vertreter des Gesetzes, der sozialen Ordnung, des Symbolischen – kein Vater – hat trennend eingegriffen und eingreifen können. Nichts Fremdes hat in die geschlossene Welt und das einschließende Sprechen, das die Mutter und das Kind umhüllt und zusammenschweißt eindringen können. So wird das Kind nie fähig sein, sich von der Sprache der Mutter zu befreien, nie fähig sein, sich die Muttersprache anzueignen, zu Eigen zu machen, zur eigenen Sprache zu machen. Ein psychotisches Kind ist und bleibt das – in der Mutter – eingeschlossene Objekt, und diese Tatsache drückt sich in einer Störung des Sprechens aus, die oft bei erwachsenen Psychotikern ganz subtil versteckt ist. Es handelt sich z. B. um einen bestimmten Umgang mit der Sprache in ihren Gesetzen der Metapher und Metonymie.

Ein großartiges Beispiel des Versuchs, sich von dieser Art der Sprache der Mutter zu befreien finden wir in den Schriften von James Joyce.

Seine genialen Romane sind die Erfindung einer aus vielen anderen gewobenen neuen Sprache. J. Lacan fragt sich in seinem Seminar LE SINTHOME, ob nicht eben dieser Umgang von Joyce mit seiner Muttersprache, diese Kreation einer individuellen Sprache, das ist, was Joyce vor der Psychose, oder zumindest dem Ausbruch der Psychose bewahrt hat.

Zu dem, was ich im Folgenden sagen möchte, muss ich eine kleine Präzisierung machen: wenn ich hier von Sprache, Muttersprache und Sprache der Mutter rede, geht es darum, zunächst festzuhalten, dass das Sprechen eines jeden Menschen sich an jemanden richtet. Durch das Sprechen kann etwas vom unbewussten Begehren, welches, – eben, weil es unbewusst ist und als solches nicht artikulierbar, – erraten und auch erreicht werden: die Frage ist also: welchen Anspruch stelle ich, wenn ich spreche, und welches Begehren artikuliert sich in diesem Anspruch?

Lässt sich nun das Sprechen der Mutter bei den Neurotikern ebenso beschreiben, wie zuvor das bei dem Psychotiker? Auch im Fall der Neurose kann es passieren, dass ein Kind auf eine bestimmte Weise und zu sehr, aber anders als beim Psychotiker, in der Sprache der Mutter eingewebt und von ihr gefangen gehalten ist. Hier handelt es sich eher um ein gefangen sein in den Vorstellungen und Fantasmen der Mutter, was es schwierig macht, den Zugang zum eigenen Begehren zu finden und es als Begehren des Anderen erkennen und anerkennen zu können.

Dies kann dann zur Folge haben, dass ein Mensch durch seine Symptome spricht. Vielleicht überrascht es sie zu hören, dass Symptome die Struktur von Sprache haben, zumal wir das Schweigen als eine wesentliche Funktion des Sprechens und im Sprechen auffassen müssen. So spricht der Körper z. B. dann an Stelle von etwas anderem, an Stelle des Subjekts, spricht, ohne dass das Subjekt sich dessen bewusst ist.

In einer Psychoanalyse kann der in den Symptomen enthaltene Anspruch zu einem Appell an einen Dritten werden. In einer Psychoanalyse wendet man sich an einen Anderen, der nicht mehr die Mutter ist, sondern der Vertreter eines „Anderswo“ ihres Sprechens und der Bilder, auf die sich ihr Sprechen bezogen hatte. Wenn ein Analysant spricht, spricht es, spricht etwas noch von einem anderen Ort ausgehend als von dem Bewusstsein, und dies in einer fremd zu nennenden Sprache, der des Anderen. Wenn dieses Sprechen gehört und vernehmbar gemacht werden kann, können die eigenen Worte an Stelle des Symptoms einen neuen Sinn machen, und können mit anderen, ihren wirklichen Bedeutungen belegt werden, die auf diese Weise zum Subjekt zurückkommen und ihm zurückgegeben werden. Das bedeutet, dass das Sprechen und die das Begehren tragenden Signifikanten aus der Verstrickung des Sprechens der Mutter und ihrem Begehren befreit sind.

Die analytische Deutung ist ein symbolisches Treffen. Die Wirksamkeit, die Wirkung einer Analyse beruht auf dieser poetisch zu nennenden Umwandlung dessen was wir sagen durch die Anerkennung der Tatsache, dass wir, wenn wir sprechen immer mehr oder weniger sagen, als wir dachten oder wollten.

Mit dieser letzten Bemerkung werden wir auf ein weiteres fast paradox zu nennendes Moment des Sprechens aufmerksam gemacht: wenn die Worte sagen, was ist, sagen sie gleichzeitig, was nicht ist. Was sage ich, z.B., wenn ich sage ‚ich lüge’? Heißt das auch, dass die Sprache durch ihr Existieren im Sprechen die Unwahrheit einführt? Die Wahrheit, die sagbare Wahrheit des Unbewussten, lässt sich – worauf Lacan uns aufmerksam gemacht hat – nur halb-sagen; sie kann nur durch einen Versprecher, ein Verfehlen hervorkommen. Das Verfehlen eines Wortes, z. B. ein Lapsus, da wo uns, wie man sagt, die Zunge „ausrutscht“? Etwas vom Unbewussten erscheint, kurz wie ein Flash, durch das Ausrutschen der Zunge. Im Zusammenhang mit meinen Anfangsbemerkungen bezüglich Sprache – Körper – möchte ich Ihnen eine interessante Bemerkung Lacans aus seinem James Joyce gewidmeten Seminar LE SINTHOME nicht vorenthalten (unveröffentlichtes Seminar, meine Übersetzung)

„Jemand … machte die Bemerkung bezüglich der „Zunge“, und wies darauf hin, dass sie das Instrument der Sprache, wie auch das Organ mit den Geschmackspapiellen bezeichnet. Nun, ich habe ihm erwidert, dass es nicht umsonst so ist, dass das „was man sagt, lügt“ (es lügt). Letztlich ist dies das Einzige, was wir gegen das Symptom haben: Mehrdeutigkeit. Einzig durch die Mehrdeutigkeit wirkt eine Deutung. Man braucht etwas, das in den Signifikanten widerhallt… („raisonne“)“ Das Französische „raisonne“ hat im Klang den Doppelsinn von „vernünftig sein, reden und werden“ und von résonner: widerhallen.

So, bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch einige Bemerkungen zur Frage der Muttersprache und Fremdsprache machen.

Wenn Freud das Verdrängte, dessen Vertreter das Symptom ist, „inneres Ausland“ nennt, heißt das dann nicht, dass man seine Analyse in einer Fremdsprache macht, in der des Anderen, des Fremden in sich, um den Ort zu suchen, an dem man „seine“ Sprache und „sein“ Sprechen entziffern können wird?

Um dies zu finden, kann es vorkommen, dass man wirklich eine Fremdsprache braucht (ich spreche da von meiner eigenen Erfahrung), die hilft, sich von dem Körper der Muttersprache zu entfernen und zu befreien. Deutsch, meine Muttersprache, ist, wie erwähnt, eine Sprache, in der alles vom Körper auszugehen und zum Körper zurückzukommen scheint. Selbst der Doppelsinn eines Wortes sendet oft nur ein anderes Körperbild zurück. Einige kleine Beispiele: das Wort leben selbst, kommt von Leib, lebhaft sein: von am Leben und beweglich sein. Ferner ist die deutsche Sprache unmittelbar und klar an das Körperliche und Organische gebunden, und nennt es konkret und direkt beim Namen, als gäbe es keine Abstraktion. So weiß man z. B. auch sofort, was es mit der Bauch-Speichel-Drüse auf sich hat. Man wird aus dem Muttermund durch die Scheide geboren, man spricht von einem Mutterkuchen;  „übersetzt“ könnte dies auch heißen, dass man aus dem Mund der Mutter als sprechendes Wesen zum eigenen Begehren geboren wird, allerdings nur, wenn man sich von dem Brei ihrer Besitzergreifenden Liebe und damit von der Gefahr der mentalen Anorexie befreien kann.  Diese Besonderheit der deutschen Sprache (andere haben ihre eigenen) birgt das Risiko, an diesem Körperlichen und der Zerstücklung des Begehrens, die damit einhergeht, festgenagelt zu bleiben.  

So kann es auch – umgekehrt als bei Canetti – eine Überraschung für ein Kind sein, eine Fremdsprache zu entdecken, die z. B. die Mutter nicht kennt. Dies kann zu der Entdeckung führen, dass Worte sich auf andere Worte und nicht nur auf Körperbilder beziehen; es geht um die Entdeckung, dass etwas Gesagtes Sinn macht, ohne dass es von jedem und vor allem von der Mutter verstanden wird. Das heißt, es kann etwas verstanden werden, das nicht zuerst durch den Mund, die Sprache der Mutter gegangen ist. Auf diese Weise kann eine fremde Sprache, eine Fremdsprache, ein Schatz von Signifikanten als nicht mehr aus dem Inneren der Mutter-Sprache und der Sprache der Mutter, sondern als von Außen kommend anerkannt werden und zu eigen gemacht werden.

Die Sprache – sagt Lacan – hat ihren Wert als TESSERA; TESSERA ist eine Art von Wechselgeld, hier das zu zahlende Wechselgeld, um von der Muttersprache zur „Fremdsprache“, dem eigenen inneren Ausland, zur eigenen Sprache zu gelangen, sich als Subjekt des Begehrens der Welt zu stellen.             

Und dies bringt mich zu einem letzen kurzen Zitat aus Canettis Autobiographie, die auf bewundernswerte Weise zeigt, sagt, wie sehr seine „Liebe zur Sprache“ sein Umgehen – können – mit Sprache ihm auch eine ganze besondere Art, Dinge zu interpretieren gegeben hat:

„ … Die Märchen, die ich hörte, sind mir in allen Einzelheiten gegenwärtig, aber nicht in der Sprache, in der ich sie gehört habe. Ich habe sie auf bulgarisch gehört, aber ich kenne sie auf Deutsch, diese geheimnisvolle Übertragung ist vielleicht das Merkwürdigste, was ich aus meiner Jugend zu berichten habe …Wie das genau vor sich ging, kann ich nicht sagen … Ich kann nur eines mit Sicherheit sagen, die Ereignisse jener Jahre sind mir in aller Kraft und Frische gegenwärtig – mehr als sechzig Jahre habe ich mich von ihnen genährt – aber sie sind zum allergrößten Teil an Worte gebunden, die ich damals nicht kannte. Es scheint mir natürlich, sie jetzt niederzuschreiben, ich habe nicht das Gefühl, dass ich dabei etwas verändere oder entstelle. Es ist nicht wie die literarische Übersetzung eines Buches, von einer Sprache in die andere, es ist eine Übersetzung, die sich von selbst im Unbewussten vollzogen hat, und da ich dieses durch übermäßigen Gebrauch nichts sagend gewordene Wort sonst wie die Pest meide, mag man mir seinen Gebrauch in diesem einen und einzigen Fall nachsehen.“

*Was es mit der Stimme als Objekt auf sich haben kann, beschreibt Canetti bei der Begegnung mit einer sonderbaren Gestalt, die er auf seiner berühmten Reise in Marokko trifft und „Der Unsichtbare“ nennt. (In: Die Stimmen von Marrakesch)