This article was presented on 2 December 2021 at Siavoushan Centre

Man hat die Verpflichtung,

sich jener Währung zu bedienen, die

in dem Lande, das man durchforscht,

eben die herrschende ist. 

Im Feld der Psychoanalyse kursieren von Zeit zu Zeit heroische Deutungserzählungen. Diese Erzählungen machen Eindruck und führen einen an der Nase herum. Mit einer solchen sei hier begonnen. Sie stammt von Theodor Reik, einem Analytiker der ersten Generation, Laienanalytiker, da nicht von der Medizin, sondern von der Literatur her kommend. Reik hatte einen ausgeprägten Sinn für Überraschung und hat darüber auch mehrfach publiziert. Die folgende Episode berichtet er im Kapitel „Der überraschte Psychoanalytiker“ seines wohl bekanntesten Buches Hören mit dem dritten Ohr von 1948. Es handelt sich um die Analyse einer politischen Exilantin aus Deutschland, die er 1935, selbst als Jude im Exil, in Holland unternahm. Die Frau hatte in Deutschland einige Jahre lang eine Liebschaft mit einem verheirateten Mann, einem bekannten Arzt, gehabt. Er hatte ihr versprochen, sich für sie scheiden zu lassen, aber sie erlebte eine große Enttäuschung, da er dieses Versprechen nie einlöste. „Als Hitler an die Macht kam, fehlte es ihm an moralischem Mut, seine Karriere zu opfern. Er brach die Beziehung ab und kehrte zu seiner Frau zurück. An dieser Enttäuschung litt die Patientin mehr als an allen anderen Schicksalsschlägen“, so kommentiert Reik. Die Analyse stagnierte seit einer Weile. In der betreffenden Sitzung, die dann die Wende bringen sollte, schwieg die Analysantin, wie oft in letzter Zeit, und versicherte, dass ihr nichts einfiele. Nach einiger Zeit klagte sie über Zahnweh und sagte, dass sie am Vortag beim Zahnarzt gewesen sei, eine Injektion bekommen habe und ihr ein Weisheitszahn gezogen wurde. Reik berichtet dann über den weiteren Verlauf der Sitzung:

Die Stelle fing wieder an weh zu tun. Erneutes und längeres Schweigen. Sie zeigte auf meinen Bücherschrank und sagte: ‘Dort steht ein Buch auf dem Kopf.’  Ohne das geringste Zögern und mit vorwurfsvoller Stimme fragte ich sie: ‘Warum haben sie mir nicht erzählt, dass Sie eine Abtreibung hatten?’ 

Reik hatte Recht, er hat mit seiner kühn vorgetragenen Vermutung einen Treffer gelandet. Aus der Liebschaft war damals eine Schwangerschaft hervorgegangen, die der Liebhaber als Arzt selbst mit einer Abtreibung beendet hatte. Die relativ spät vorgenommene Operation hatten beide geheim gehalten, da Strafe (Todesstrafe) auf sie stand. Und sie war nun aus Liebe zu diesem Mann entschlossen gewesen, überhaupt nie jemandem etwas von diesem Geschehen zu verraten. Reik hat ihr mit seinem Vorstoß tatsächlich das Geständnis dieser Geschichte entlockt. Wie war er darauf gekommen ?

Reik hat die Bemerkung seiner Analysantin vor dem Hintergrund dessen interpretiert, was dieser voranging, das heißt im Kontext der Gedanken, die sie ausgesprochen hatte, einschließlich ihres Schweigens. Er tat dies nach den Regeln der Traumdeutung, d.h. er entzifferte die Entstellungsmechanismen, die Verdichtungen und Verschiebungen, die hier am Werk waren. Er schreibt: 

Ich kann den unterirdischen Pfaden zwischen ihren wenigen Assoziationen jetzt folgen. Zahnweh, die Injektion durch den Zahnarzt, das Ziehen des Weisheitszahns, das Buch, das auf dem Kopf steht.[…] Hier war eine Verschiebung von unten nach oben, vom Genitalbereich zum Mund … eine Operation … Schmerz … die Lage des Buches und der Embryo auf dem Kopf. 

Reik betont, dass er ohne bewusstes Nachdenken auf die Lösung gekommen sei und seinen Schlussgang hier erst nachträglich rekonstruiert. Die Spontaneität ist ihm überaus wichtig. Es ist ein bisschen als würde er sagen: Ich deute mit dem sechsten Sinn, ganz wie sein Buchtitel sagt: Hören mit dem dritten Ohr – wo doch zwei Ohren völlig ausreichen für die schwierige Kunst analytischen Hörens. Ich denke nicht, dass die Zeit des Begreifens notwendig völlig unbewusst ablaufen muss, bestimmt aber zum Teil. Reik war zweifelsohne begabt für unbewusste Schlussfolgerungen, er tendiert jedoch dazu den Vorgang theoretisch zu vernebeln. Ich gehe davon aus, dass er in den vorangegangenen Stunden weitere Hinweise auf die Abtreibung zwar gehört, aber nicht mit Aufmerksamkeit bedacht hatte. Sie können deutlicher gewesen sein als der Rätselsatz, den er von der Analysantin wiedergibt, oder ebenso enigmatisch. „[I]hre Worte fanden ein Echo in mir“, schreibt Reik immerhin. Ihre Hinweise haben in der Folge ein Netz gebildet, das den Schluss auf die Abtreibung, der sich dann wie mit einem Mal ergab, stützte. Das Vergessen des Materials bildet eine Bedingung der Deutungsarbeit in der Analyse: die Bedingung nämlich für sein Wiederauftauchen in anderer Ordnung. Im Moment des Deutens geht es dann um das Ergreifen des unbewussten Einfalls wie bei der Witzbildung. Die Flüchtigkeit des Unbewussten und die ihm eigene Zeitlichkeit nötigen zu einer gewissen Hast in der Zeit des Schließens. Daher die Plötzlichkeit.

Die Schlussfolgerung, die Reik hier zog und aussprach, ist ein Coup – zum Glück ein gelungener, ein überraschender Treffer. Aber: Ist das eine Deutung im Sinne der Psychoanalyse? Ich möchte sagen: nein. Reiks Intervention deckt ja schon einmal nichts Unbewusstes auf. Sie lüftet ein Geheimnis, das der Dame durchaus bewusst war. Es ist keine psychoanalytische Deutung. Es handelt sich um ein gelungenes psychoanalytisches Raten.

Mein Vorschlag ist: Um sich dem zu nähern, was eine Deutung in der Analyse sein kann, müsste man hier das Pferd von hinten aufzäumen, man müsste die Chose umgekehrt lesen. Denn von der Struktur einer psychoanalytischen Deutung ist weniger Reiks Intervention als viel eher der Rätselsatz der Analysantin, die sagt: ‘In Ihrem Bücherschrank steht ein Buch auf dem Kopf.’ Das ist ein Satz im Stil einer Deutung: Er nimmt etwas auf, das in der Luft liegt, man könnte sagen: das im Raum steht, und er fügt die Signifikanten so zusammen, dass sie sich nicht leicht auflösen. Sie sind herausfordernd rätselhaft kombiniert: ‘Warum sagt sie mir das?’ Der Satz bringt den anderen, wenn er sich einlässt, zum Arbeiten. Und er löste schließlich aus, was man sich nur wünschen kann, dass eine Deutung es auslöst: die verschiedenen Hinweise, oder mit Freud gesagt: „Wahrnehmungszeichen“, die Reik bis zu diesem Satz vielleicht über mehrere Sitzungen hinweg aufgenommen hatte, aber nicht hatte verknüpfen können, traten plötzlich hervor- und zusammen: Sie fügten sich neu zu einer (Re)Konstruktion, die ihm bis dahin nicht möglich gewesen war. Die Umkehrung ist nur so irritierend, weil es ja nicht um die Geschichte des Analytikers geht, sondern um die der Analysantin. Es sind ihre Signifikanten, die sich ihm zusammensetzen. Aber man muss sich nicht zu sehr daran stoßen, die Plätze bleiben: Es war in diesem Fall eben die Analysantin, die den Deut abgeschickt hat. Es bleibt ja ihre Analyse, d.h. es bleiben ihre Signifikanten, die im Spiel sind.

Die Idee der Umkehrung hat sich mir nahe gelegt, weil das Deuten in der Psychoanalyse grundsätzlich nicht auf der Seite des Klartext-Sprechens steht. Es wäre ein folgenreicher Irrtum, das zu glauben. Deuten in der Psychoanalyse ist nicht Rätsel lösen. Eine Deutung kann auf der Seite dessen, der sie vernimmt, durchaus etwas verursachen, das ich Klartext-Wirkung nennen würde: ein Urteil, eine Handlung. Sie muss es aber nicht. Sie kann auch einfach neue Signifikanten hervorbringen, eine psychische Arbeit in Gang setzen. Eine gelungene Deutung fördert neues Material hervor, sagt Freud irgendwo. Hier in unserem Beispiel liegt die Klartext-Wirkung auf Seiten des Analytikers. Er hat gehört, was ihm übertragen worden ist: das Geheimnis der Abtreibung. Die Analysantin hat ihm einen rätselhaften Fingerzeig gegeben, auf seinen Bücherschrank deutend und ihren Satz sagend, an dem eines immerhin wirklich unbewusst war: die Übertragung. Im doppelten Sinne: die Übertragung im Sinne der Auslieferung des Geheimnisses und die Übertragung im psychoanalytischen Sinne. Sie hatte ihrem Analytiker dieses ihr Geheimnis als einen Teil von sich nicht anvertrauen wollen – so ihre bewusste Intention, an der vorbei es passierte. Damit steht dann die Chose doch wieder auf ihren Füßen, denn es geht um Unbewusstes: um die Übertragung, die Reik hier aufnimmt ohne sie zu deuten, was ich für klug halte. Das Ereignis reicht vollkommen, um weiter zu arbeiten. Der Satz der Analysantin formuliert überdies erstaunlich präzise, was Übertragung ist. Sie unterstellt Reik ihr Wissen – sujet supposé savoir. Sie sagt sozusagen: >Es steht auf Ihrer Seite und mir unzugänglich, im Schrank, es steht in Ihrem Bücherschrank. Und die Spuren meiner Geschichte werden – für mich – zuerst auf Ihrer Seite auftauchen, so wie jetzt das Buch: umgekehrt.<  Der Analysant erhält seine Botschaft vom Analytiker in umgekehrter Form zurück, heißt es bei Lacan. Die Übertragung ist der entscheidende Punkt, sie ist die Basis jeglicher Deutungswirkung in der Psychoanalyse.

An dem kleinen Verwirrspiel lässt sich außerdem verstehen: Ob etwas eine Deutung gewesen sein wird, darüber entscheidet die Wirkung des Gesagten. Es lässt sich allein nachträglich feststellen. Ein Psychoanalytiker / eine Psychoanalytikerin gibt oder macht Deutungen, er/sie deutet – zweifelsohne, wenn auch selten. Er oder sie sagt ja aber auch sonst etwas, fragt nach, räuspert sich, oder sagt gerade nichts, hüllt sich in Schweigen. Was davon ist Deutung, was nicht?  Erst der weitere Verlauf der Analyse zeigt, ob etwas als Deutung vernommen wurde. Unsere kleine Geschichte von Reiks Intervention hebt aber noch ein anderes Moment deutlich heraus: ein Analytiker oder eine Analytikerin muss in gewissen Momenten durchaus etwas wagen. Mit seinem Sinn für die Überraschung und der Frische der psychoanalytischen Anfänge hat Reik mit bewundernswertem Mut auf die Wirklichkeit der unbewussten Mechanismen gesetzt und seine Funde aufgetischt. 

Die Geschichte hat gleichwohl ihre Fallstricke, so kostbar solche Tradierungen von kühnen Interventionen auch sind. Freud hat der Versuchung schnell oder gar mit Pomp zu deuten klar entgegen gesprochen. Sein Rat an die Analytiker war eher nicht Deuten, nicht Ausdeuten:

Es gibt in der Analyse diese Regel: der Analytiker sollte sich nie selbst darum bemühen, dem Patienten die exakte Bedeutung ausfindig zu machen. Darum sollte er sich nicht kümmern. Er braucht dem Patienten nur beim Überwinden von Widerständen behilflich zu sein, und dann wird der Patient die Bedeutung schon selbst finden. Denn drängt der Analytiker den Patienten dazu, die Bedeutung herauszufinden, oder versucht er ihm dabei zu helfen, so verstärkt er nur dessen Widerstand.

Man könnte in der Verlängerung dieser Regel fast soweit gehen zu sagen: Das Deuten fällt auf die Seite des Analysanten. Der Analytiker hat – ich trage hier Lacans Ansatz ein – auf die Signifikanten acht zu geben. Hier hat er Widerstand zu bieten: Widerstand gegen die Sinngebung, das heißt gegen die Weise, in der der Analysant die Signifikanten immer schon interpretiert, und das heißt deutet und umdeutet, abwehrt, unkenntlich macht, auseinanderreißt, ersetzt. Das Unbewusste ist ja etwas, von dem eine(r) nicht wissen will. Es löst sich auch nicht in Sinn auf, wie Freud gelegentlich zu suggerieren scheint, sondern widersteht solcher Auflösung material. So gibt es also Deuten und Deuten – und der Akzent, der für das Deuten in der Psychoanalyse entscheidend ist, liegt gerade nicht auf der Sinndeutung. Die Bewegung der Analyse ist eher Abtragen von Sinn. Das heißt gewiss nicht, dass der Sinn damit verschwindet. Er ändert sich. Man kann sagen: er wird freigesetzt – im vielfachen Wortsinn.

Hier findet im Übrigen auch die Praxis der Skansion, etwa in Form der Unterbrechung der Sitzung, ihre theoretische Begründung. Denn die Unterbrechung des Sinnflusses hebt ein Moment darin heraus und verhindert, dass der Bogen des Sinns sich schließt – ohne dass gleich ein neuer Sinn darübergelegt wird. „Die Spitze an Sinn […] ist das Rätsel“, hält Lacan fest. Die Deutung in der Psychoanalyse steht auf der Seite des Rätsels:

Die Deutung – die sich ihrer bedienen, bemerken es – wird oft durch ein Rätsel hergestellt. Ein Rätsel, das soweit wie möglich den Fäden des Diskurses des Analysanten entnommen ist, den Sie, der Deuter, mitnichten durch Sie selbst komplettieren können, den Sie nicht als Geständnis ohne Lüge betrachten können.   

Der Zugang zur psychischen Realität, sofern sie unbewusst ist, erfordert, dass man sich der hier herrschenden Währung bedient, und dies bestimmt die Form der Deutung selbst. Eine Deutung erlaubt streng genommen nicht die Entscheidung, ob sie wahr oder falsch sei (wie es für Reiks Satz möglich ist), auf diesem Feld ist sie unentscheidbar. Sie hat richtig zu sein und das heißt, sie hat die Signifikanten zu treffen. Als eine Deutung in diesem Sinne hat Norbert Haas einmal einen Satz Freuds hervorgehoben, den dieser im Bericht seiner Analyse des Rattenmannes (Ernst Lehr) festgehalten hat. Als Ernst Lehr ihn darum bittet, ihm das Geständnis des Inhaltes seiner Rattenphantasie zu ersparen, gibt Freud zur Antwort, dass er das leider nicht könne und fügt hinzu: „Ebensogut könne er mich bitten, ihm zwei Kometen zu schenken.“ Diese drei signifikanten Elemente: Zwei, Kometen und Schenken nimmt Haas in seinem Kommentar auf und geht ihnen einzeln nach, um ihre Einflechtung in die zwangsneurotische Struktur des Rattenmannes aufzuzeigen. Deuten erscheint hier als etwas Indirektes, das die tragenden Elemente einer Struktur streift. Es ist, mit Lacan gesprochen, ein Aussagen,  kein Statement, noch weniger eine Erklärung, sondern eine Rede, die sich nicht durch ihre Absicht auszeichnet, die vielleicht nicht einmal absichtsvoll ergeht: ein Sagen als solches, ein Signifikanten-Fallen-Lassen, und manchmal auch nur Buchstaben.

Von der Anderen Seite her

Man kann die Frage des Deutens von mindestens zwei Seiten her angehen: so wie im vorangehenden Abschnitt von der Praxis her, d.h. von konkreten Deutungen bzw. Interventionen ausgehend, jedoch auch von der Ausrichtung der Kur her. Die Fragen, die sich in dieser Perspektive stellen, sind grundlegend, denn ich deute als Analytikerin von dem her, was ich als das Ziel einer Psychoanalyse begreife: das Auftauchen des Unbewussten, die Artikulation des Subjekts, auf dass sich ein Begehren Stimme geben kann, bzw. im Fall einer psychotischen Struktur: die Konstruktion eines Sinthomes – um Lacans Wortschöpfung aus seinem Joyce-Seminar aufzugreifen. (Der Differenz, die die Funktion des Deutens in Neurose oder Psychose hat, werde ich hier nicht nachgehen können.  Vielleicht lassen sich dazu in der Diskussion einige Gedanken entwickeln.)

Wie lässt sich das Deuten also von der Theorie her fassen? Zwischen beiden Seiten spannt sich das gesamte Verhältnis von Praxis und Theorie in der Psychoanalyse, und nicht zufällig kreuzen sie sich in der Frage Was heißt Deuten? besonders eng. Denn Deuten ist einerseits die je besondere Kunst eines Analytikers oder einer Analytikerin und als solche gerade nicht restlos zu theoretisieren, ein Savoir-faire. Andererseits führt seine Befragung ins Herz der Theorie und ich bekomme es bei ihrer Beantwortung mit dem gesamten Gewicht des theoretischen Apparates zu tun, mit dem ich arbeite. Um diese zweite Seite soll es also im Folgenden gehen.

Hier ist es notwendig ein Stück weit auszuholen und einen Grundzug der Analyse zu skizzieren. Im Auftakt einer Analyse kristallisieren sich spezifische Signifikanten heraus, erste Knotenpunkte. Das bringt oft die erste Erleichterung: etwas weniger Dickicht, es wird einiges lesbar.  Die Bewegung kann freilich verschieden gelagert sein: Im Falle dass es undurchsichtig viele Signifikanten gibt, geht es um eine Reduzierung dieser Fülle, wo Kargheit, Stummheit vorherrschen, da treibt die Psychoanalyse einige Signifikanten hervor. Entscheidend ist, dass diese erste Bewegung, die besonders den Anfang charakterisiert, auf die unterschiedlichste Weise geschieht. Der Anfang ist so kontingent wie es nur geht, er hängt ganz im Konkreten: in der Begegnung dieses einen Analysanten, aus seiner gegenwärtigen Lebenssituation heraus, mit dieser einen Psychoanalytikerin. Es gibt immer irgendwelche Eigenheiten, Elemente, an denen die Übertragung andockt, die diesen Einstieg in die Übertragung formen und die bestimmen, was der Analysant auftischt. Jeder Analytiker hat wiederum eine andere Art, dies zu hören, bzw. wie der Berliner Psychoanalytiker Lutz Mai es einmal gesagt hat: „die Spreche abzuhören“. Die Formulierung ist mir in Erinnerung geblieben, da sie ambivalent und anrüchig ist – sie klingt nach: ‘die Herztöne abhören’ oder auch, mit einen paranoischen Anklang: ‘hier wird abgehört’. Ein jeder Analytiker nimmt diese ‘Spreche’ von einem anderen Ende her auf und akzentuiert andere Signifikanten. 

Im Zug der Analyse tritt dann jedoch zunehmend etwas hervor, das von diesem je konkreten Anfang unabhängiger ist. Im Laufe einer Analyse tritt die Kontur der Wiederholung hervor, in der ein Subjekt steht. Die Weise, in der diese Kontur auftaucht, wird nie die Färbung der je besonderen Annäherung vermissen lassen. Aber im Zug der Herausschälung der Wiederholungsstruktur kommt etwas ins Spiel, das sich von den konkreten Umständen entfernt, etwas, das der Gegenwart vorausgeht. Ja, man muss hier noch einen Schritt weiter gehen. Die Analyse geht auf etwas zu, das jenseits liegt, und ich möchte sagen: jenseits der Subjektivität – nicht nur der des Analytikers (das ist klar, denn um diese geht es nicht), sondern jenseits der Subjektivität des Analysanten. Dies ist der springende Punkt, auf den es mir hier ankommt. Es ist extrem heikel, das zu sagen, aber es ist unabdingbar: Die Analyse geht auf etwas zu, das nicht die Subjektivität des Analysanten ist – obwohl sie doch um dieses Subjektes willen geschieht! Sie geht durch diese hindurch auf etwas jenseits der Subjektivität Liegendes zu – das jedoch anders als durch die Subjektivität hindurch nicht zu haben ist. Es ist enorm wichtig, sich klar zu machen, was das heißt. Zuerst einmal heißt das nicht, dass die Analyse dieses Jenseits auch erreicht, und nicht einmal, dass es wünschenswert ist, es zu erreichen. Es gibt keinen Grund dieses Jenseits zu idealisieren, noch es zu verteufeln – auch wenn es, als eine Art pathetische Grenze, beides auf sich zieht. Das Leben geht ja auch auf den Tod zu, ohne dass es wünschenswert ist, dort schneller anzukommen als nötig. Wie lässt sich also dieser Punkt fassen – jenseits der Subjektivität des Analysanten –, an dem jede konkrete Psychoanalyse in der Theorie verankert ist – und an dem auch das Deuten hängt?

Er ist in der Theorie vielfach und vielfach verschieden formuliert worden. Es ist der Punkt, an dem das Subjekt in die Sprache eingelassen ist, oder anders gesagt: es ist der Moment der Subjektkonstitution. Freud hat ihn als den Punkt der Urverdrängung gekennzeichnet und ihm eine Formulierung gegeben, die zur Frage des Deutens zurückführt. Es ist die Rede vom „Nabel des Traums“, die sich in der Traumdeutung findet und die, obwohl sie dort marginal erscheint, immer wieder Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. An diesem Nabel findet nach Freud das Deuten seine Grenze:

In den bestgedeuteten Träumen muss man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, dass dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt.

Die Worte der Deutungen reichen hier nicht (mehr) hin. Freud markiert diese Stelle als ein Überbleibsel und zugleich als einen Ursprungspunkt der unbewussten Produktion. Aus dieser „dichteren Stelle des Geflechts“, von Traumgedanken bzw. Signifikanten, so heißt es weiter, „erhebt sich dann der Traumwunsch wie ein Pilz aus seinem Mycelium.“ Dieser Punkt befindet sich mithin an der Wurzel der Artikulation des Begehrens. Ihn als „Nabel“ zu bezeichnen, trägt hier eine körperliche Note ein. Genauer bildet der Nabel eine Trennungsmarke, die Narbe eines Körperverlustes – und man darf eintragen: jenes Verlustes, der sich bei der Subjektkonstitution ereignet, der Abfall des Objektes a. Hier ist, mit Lacan gesprochen, das Reale berührt, das, was unmöglich zu sagen ist. „Es ist ein Loch, etwas, das an der Grenze der Analyse steht. Es hat ersichtlich mit dem Realen zu tun.“

Hier, um den Faden wieder aufzunehmen, ist der Ankerpunkt des Deutens, in der Tat jenseits der Subjektivität des Analysanten. Freud nannte es einen Grenzpunkt, für ihn liegt an dieser Stelle die Schranke, an die das Deuten stößt und an der ihm Einhalt geboten wird. Ich möchte sagen: Der Nabel des Traums ist der Ankerpunkt des Deutens und Deuten heißt diesen Rand ins Sprechen mit hineinzunehmen. Eine jede Deutung hat es mit dieser Dimension aufzunehmen, kurz: mit dem, was sich nicht sagt, in Lacans Terminologie, mit dem Realen – so wie es in eine Subjektivität (einen Traum, ein Symptom) hineingewebt ist: je besonders und je anders. Konkret heißt das, ein Analytiker/ eine Analytikerin deutet an dem Punkt, an dem das Latein am Ende ist. Er oder sie erhebt die Stimme am Punkt der Kastration. 

Den Körper … streifen

Ich möchte jetzt zuletzt auf das Verhältnis des Deutens zum Körper zu sprechen kommen. Er ist nicht unproblematisch und es mag Sie erstaunen, dass ich nach diesem Verhältnis frage. Aber 

Das Sprechen trifft den Körper – zweifelsohne. Das gilt grundsätzlich für das Sprechen, denn es geht zu den Ohren herein in den Körper. Wir kennen körperliche Wirkungen, die es auslösen kann: erröten, erschaudern, lachen, weinen… Freud hat von der „Zauberkraft der Worte“ gesprochen. „Worte waren ursprünglich Zauber“, schrieb er, „und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt. Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig machen oder zur Verzweiflung treiben […]. Worte rufen Affekte hervor“.  Wenn das nicht so wäre, wenn nicht, mit Lacan gesprochen, der Affekt am Signifikanten hinge, gäbe es die Psychoanalyse nicht, keine talking-cure. Doch kann man sagen, die psychoanalytische Kur ziele auf den Körper? Gewiss nicht. Sie ist weder Medizin noch Magie. Die Psychoanalyse ist eine Signifikanten-Praxis und sie zielt auf ein Savoir-faire. Man haut in der Psychoanalyse mit seinen Deutungen daneben – zum Glück und auf mehrfache Weise. Man haut neben den Sinn, denn es geht nicht ums Gemeinte. Aber man haut auch neben den Körper. Den Körper direkt ansteuern zu wollen wäre Suggestion oder Indoktrination. In der Psychoanalyse geht es um das Gegenteil: um eine Lektüre des Körpers, um die Entzifferung dessen, was einen Körper affiziert – eine Lektüre, die immer lückenhaft bleibt, die mit Konjekturen und Konstruktionen arbeiten muss, ohne die sich aber kein Savoir-faire herstellen lässt, das das Subjekt in den Stand setzen könnte, mit seinem Triebschicksal aus der Sackgasse herauszutreten, in der es die Analyse begonnen hat. Der „Innervatiosschlüssel“, um ein Wort aufzunehmen, das Freud im Zusammenhang der Affekte gebraucht, liegt im Unbewussten, und infolgedessen schließt dieser Schlüssel den Gesetzen der Verschiebung und Ersetzung folgend. Der direkte Weg ist hier verstellt, „für den Körper ist die Metonymie die Regel“, heißt es bei Lacan.

Serge Leclaire führt in seinem Buch Psychoanalysieren eindrücklich vor, was Deuten unter diesen Vorzeichen – nicht den Sinn, sondern den Körper zu treffen, oder sagen wir: zu streifen – heißen kann. Er tut das, geradezu klassisch, mit einer Traumdeutung. Die Spuren des Körpers erscheinen, wie Leclaire zeigt, in der psychischen Produktion in Form einer „buchstäblichen Ordnung“. Seine Deutung des seither berühmt gewordenen „Einhorntraumes von Philipp“ führt zu einer Buchstabenformel, deren Auftauchen hier, ohne den Weg der Analyse wirklich nach zeichnen zu können, zumindest angedeutet sei. Leclaire hebt aus den Traumelementen und den auftauchenden Assoziationen jene Szenen, Erinnerungen und Gedanken heraus, die das Körperempfinden Philipps und die Orientierung seiner Lust einschneidend bestimmt haben: ein Trinkwunsch, der sich wandelt in Begehren; seine frühe Liebe zu einem Mädchen aus der Verwandtschaft namens Lili; eine Szene mit ihr am Strand; eine mit den Händen geformte Hohlform; die Sensation des Sandes unter den Füßen; das Horn des Einhornes, das ihn an die Narbe denken lässt, die er von einem Sturz als Kind an der Stirn trägt; Erlebnisse des Stürzens; Assoziation eines Salto mortale …

Lili – Durst – Strand – Spur – Haut – Fuß – Horn (lili – soif – plage – trace – peau – pied – corne). Dies die Form, in der sich das Unbewußte der Analyse präsentiert: als eine Folge von Begriffen. Wie diese Begriffe zusammengekommen sind, ist für den, der die verschlungenen Pfade des analytischen Gesprächs nicht kennt, so undurchdringlich wie die Ordnung einer Rumpelkammer.

Es ist gleichwohl alles da: die Szenen der aufkeimenden sexuellen Erregung, die Kastration, Begehren und Abwehr, die Andeutung des Traumas – kurz: die „Kristallisationspunkte“ der Lust, die, mehrfach überschrieben in der Geschichte des Subjekts ihre unbewusste Spur hinterlassen haben. Im Fortschreiten seiner Analyse vollzieht Leclaire, und darauf kommt es hier an, eine Bewegung, die von einem Widerstehen gekennzeichnet ist. Er geht voran, indem er der Lockung des Sinns widersteht, indem er nicht deutet, nicht konstruiert, oder sagen wir so wenig wie möglich. Er folgt den Buchstaben, schält das buchstäbliche Material heraus, um dessen Kernbewegung festhalten zu können: sich schreiben zu sehen, was als unbewusste Formel allen anderen Formulierungen vorangeht und diese affiziert. Die oben aufgereihten Begriffe bildeten dabei eine Vorstufe, die er Schritt für Schritt weiter zerlegt und verdichtet. So formuliert Leclaire als Ergebnis dieser Traumdeutung nicht einen Traumsinn sondern ein Kunstwort, in dem gleichsam aller Sinn, der in den Szenen, Erinnerungen und Gedanken auftauchte, geronnen ist. „Pôor(d)j’e-li“ lautet die Formel, zu der Leclaire in seiner Analyse schließlich gelangt. Sie bildet jenen „Kern von non-sense“, der so etwas wie der unbewusste Name des Subjekts ist. Folgende Bemerkung fügt Leclaire an:

Dass Analyse in dieser Form von einer Buchstabenformel ausgeht, mag überraschen und recht zufällig erscheinen. Man sollte aber nicht vergessen, dass ihr einziger Zweck darin besteht, ohne alle Deutung aus den Mitteilungen des Patienten die empfindlichen Punkte herauszuarbeiten, ’empfindlich’, wie man präzisieren könnte, im physischen Sinne.

Diese empfindlichen Punkte aufzuspüren ist das Ziel des Sprechens in der Psychoanalyse. Es sind die Markstellen, die im Sprechen des Subjekts nach und nach ihr Gewicht erwiesen haben, weil sie in den Runden, die die psychoanalytische Kur dreht, als Determinanten hervorgetreten sind. Sie sind Markstellen physischer Empfindlichkeit, weil sie Erinnerungszeichen erlebter körperlicher Sensationen (von Befriedigungs- und Schmerzerlebnissen) sind, die sie zugleich verdrängen und memorieren. Es sind die Trigger der Wiederholung, die Markierungen des Triebschicksals. 

Mehr ist in der Psychoanalyse nicht zu haben, wenn überhaupt so viel zu haben ist. Leclaires Formel bildet, so würde ich sagen, eine Art Widerstand – in dem Sinn, in dem im Vorangehenden von Widerstand die Rede war, als Widerstand gegen die Schließung des Unbewussten. Nicht als Ergebnis ist sie das wichtigste, so positiviert ausgeschrieben ist sie vielleicht schon zu viel, zu ästhetisch geformt. Aber die indirekte Spur bildet, so erstaunlich das klingen mag, den direktesten Zugang zum Körper – zumindest für eine Praxis, die nicht am sprechenden Subjekt vorbei zu gehen gedenkt.

In Sachen Körper ist in der Analyse der Entzug grundlegend. Es gibt allein Vertretungs-, Ersetzungs- und Verweisungsverhältnisse, die sich um die Narbe eines Verlustes herum bewegen, um den Nabel des Traums, um Freuds Formulierung noch einmal aufzunehmen. 

Und hier lässt sich schließlich auch noch einmal an die von Reik berichtete Analysesequenz erinnern, in der es ja auf höchst konkrete und traumatische Weise um einen Körperverlust gegangen war. Reiks Intervention vermochte zu verhindern, dass das Trauma der Abtreibung sich in der Analyse wiederholte – es hätte zum Abbruch der Analyse (zum Beispiel in Form ihres Versiegens) kommen können. Es war knapp, die Analyse stagnierte damals. Aber auch seine Intervention hätte einen Abbruch der Analyse herbeiführen können – etwa wenn die Übertragung nicht stabil genug gewesen wäre. Um den P1atz der Liebesgeschichte und ihrer Abtreibung im Triebschicksal dieser Frau lesbar zu machen, wird es in der Folge auch so etwas wie Langmut (auch im Sinne eines Mutes, der einen langen Atem hat) gebraucht haben – das Taktgefühl sowie die Deutungskunst des Analytikers.