Christian Kläui

Das Reale bei Lacan

This article was presented on 5 May 2022 at Siavoushan Centre

Heute möchte ich mich mit Ihnen einem Begriff Lacans annähern, dem Begriff des Realen. «Das Reale» ist schwer zu fassen, weil es ein Begriff für genau das ist, was sich der Sprache des Begreifens entzieht, für das, was im Symbolischen nicht repräsentiert werden kann und trotzdem wirkt.

Flüchtige Augenblicke, in denen wohlgefügte Vorstellungsketten einreissen, und wir ins Stocken kommen. Begegnungen, die im Guten oder im Bösen wie ein plötzliches Zusammenprallen wirken und uns aus der Bahn reissen. Merken, dass das Hören eines Vortrags für einen Moment nur Stimmenklang war und vom Inhalt nichts geblieben ist. Überrumpeltwerden von der «nackten» Tatsache, Körper zu sein. – Erfahrungen, wie wir sie alle kennen und die, in der Sprache Lacans, etwas mit dem Realen zu tun haben.
Erfahrungen, wie wir sie auch aus den Analysen kennen: Wenn das Sinnkontinuum, in dem ein Analysant sein Fühlen und Denken zu fassen versucht, plötzlich auseinanderbricht. Wenn im Bild, das er von sich selbst hat und uns zu vermitteln versucht, plötzlich Risse auftreten und ihm sozusagen sein eigenes Spiegelbild für einen Ausgenblick fremd geworden ist. In den Analysen sind dies Momente, in denen vorher gesprochen wird und nachher weiter gesprochen wird, aber dazwischen ist kurz etwas aus den Fugen geraten. Und das macht, dass das Reden nachher nicht mehr das gleiche ist, wie das Reden vorher, dazwischen widerfährt etwas Reales.

Anhand von vier Beispielen aus Klinik und Alltag werde ich zu umkreisen versuchen, was Lacan unter dem Realen verstanden hat und warum dieses Konzept wichtig ist.

«Das Reale» ist zunächst ein Begriff aus der Alltagssprache, mit dem wir gewisse Vorstellungen verbinden. Lacan hat dem Begriff des «Realen» eine Theoretisierung gegeben, die sich von der umgangssprachlichen Verwendung des Wortes unterscheidet. Deswegen ist es hilfreich, vorweg zwei Abgrenzungen deutlich zu machen:

  1. Das Reale bei Lacan ist eine Kategorie, die sich nicht aus sich selbst heraus bestimmen lässt. Es ist nichts Urtümliches, nicht irgendein Naturzustand vor dem Erfasstwerden durch die Kultur, auch nicht einfach der Körper als solcher.
  2. Das Reale ist auch nicht die Realität. Nichts Seiendes ist als solches real, mit Sicherheit nicht das, was wir gewohnt sind, «Realität» zu nennen.

Es ist praktisch, sich diese beiden Negativ-Bestimmungen zu vergegenwärtigen, wenn man begreifen will, was Lacan mit dem Realen gemeint hat.

I Wiederholung

Ich komme nun zu meinem ersten Beispiel, mit dem ich an das anknüpfen kann, was ich Ihnen in meinem letzten Vortrag über Wiederholung gesagt habe.

Ich nehme nochmals das Beispiel Freuds auf, das ich Ihnen damals erzählt hatte. Es ist mir zuerst eingefallen, als ich mich damit zu beschäftigen begann, wie ich Ihnen den Begriff des Realen bei Lacan näher bringen könnte. Den Begriff des Realen gibt es bei Freud nicht, aber die kurzen Geschichte aus Jenseits des Lustprinzips hilft, uns an Lacans Begriff heranzuführen.

Ich zitiere: «Man denke zum Beispiel an die Geschichte jener Frau, die dreimal nacheinander Männer heiratete, die nach kurzer Zeit erkrankten und von ihr zu Tode gepflegt werden mussten.»[1]

Freud erwähnt dieses merkwürdige Lebensschicksal, als er sich damit beschäftigt, zu verstehen, wie es sein kann, dass Menschen Schicksalsschläge erleiden, denen sie passiv ausgeliefert sind und die sich doch beim gleichen Menschen wiederholt ähnlich ereignen. Das könne, meint er, wie im Falle jener Frau, einen geradezu «dämonischen Zug» haben.

Schwer zu erklären und eigenartig ist: Wenn sich immer das gleiche Schicksal wiederholt, wenn einem Menschen wiederholt Ähnliches widerfährt, muss es dann nicht etwas mit diesem Menschen zu tun haben, auch wenn er das, was ihm geschieht, nur passiv zu erleiden scheint.[2] Wenn es um Erlebnisse geht, denen die Betroffenen ausgeliefert sind und für die sie scheinbar so wenig können wie die Frau für die todbringenden Krankheiten ihrer Ehemänner, dann sind wir mit einer «ewigen Wiederkehr des Gleichen» –  Freud zitiert hier Nietzsche – konfrontiert, die schwer zu begreifen ist.

Intuitiv leichter erfassbar ist es zum Beispiel bei Menschen, die immer wieder Unfälle erleiden; früher gab es auch den Begriff einer «Unfallpersönlichkeit». Ich denke etwa an eine 40jährige Frau, die nach langen Jahren mit einer Invaliditätsrente auf dem besten Weg zur Rehabilitation war und eine Ausbildung zur Pflegefachfrau begonnen hatte und dann einen schweren Velounfall erlitt und aus der Ausbildung aussteigen musste. In ihrer Geschichte war es der fünfte oder sechste schwere Unfall. Einen Hinweis darauf, dass das nicht nur eine zufällige Häufung ist, gibt ihre Geschichte: es sind immer ähnliche Situationen, in denen die Unfälle passiert sind, Situationen, in denen sie in ihrem Leben einen entscheidenden Schritt vorwärts machen wollte und die Unfälle dies verhinderten.

Diese Selbstverhinderung geschah vollkommen unbewusst; psychisch fassbar war für sie nur, dass es eine Art Muster gab. Freud hat aus solchen Beobachtungen den Schluss gezogen, «dass es im Seelenleben wirklich einen Wiederholungszwang gibt, der sich über das Lustprinzip hinaussetzt».[3]

Mit Lacan können wir nun sagen: Wo sich dieser Wiederholungszwang manifestiert, da manifestiert sich das Reale: Als etwas, das wirkt, und zwar immer wieder ähnlich wirkt. Nur deswegen, auf Grund seiner Wirkung kann es erschlossen werden. Es gibt sonst kein psychisches Material, keine damit verbundenen Vorstellungen oder Phantasien. Wir können die Geschichte, die darin steckt, nur aus der Wirkung erschliessen.

Aber wir können auch nicht auf die Annahme verzichten, dass etwas dahinter steckt und «real» wirkt. Denn wenn es blosser Zufall wäre, könnten wir nicht daran arbeiten. Wir würden die Chance vergeben, an der determinierenden Kraft zu arbeiten, um weitere Wiederholungen bestenfalls zu verhindern. Die schwierige und stets nur im Nachhinein zu entscheidende Frage ist dann: Wo ist alles nur Zufall, wo wäre es esoterisch oder einfach dem Kausalitätsbedürfnis geschuldet, einen Zusammenhang konstruieren zu wollen, und wo wirkt real etwas, das einen Menschen treibt, auch wenn es nicht als psychische Vorstellung ausgebildet ist?

Lacan hat in diesem Kontext vom «Ort des Realen» gesprochen und gesagt, dass die psychischen Vorstellungen wie ein Schirm um diesen traumatischen Ort herum funktionieren. Die phantasmatischen Vorstellungen sind zugänglich, das determinierende Reale als solches hingegen nicht.

Vielleicht erinnern Sie sich an die diesbezüglichen Worte Lacans,  die ich im Vortrag über Wiederholung schon erwähnt hatte:  Es gehe, so sagt er, darum, «den Ort des Realen zu bestimmen, der vom Trauma zum Phantasma führt – sofern nämlich das Phantasma immer nur einen Schirm darstellt, dessen Funktion es ist, ein absolut Erstes, in der Funktion der Wiederholung Determinierendes jedem Zugriff zu entziehen.»[4] Dieses «absolut Erste», das die Wiederholung determiniert und sich – vor jeder Symbolisierung, vor jeder imaginären Ausgestaltung im Phantasma nur als Wiederholung manifestieren kann, das also wäre in einer ersten Annäherung das Reale.

II Angst

Nun verlasse ich das Thema, mit dem wir uns schon das letzte Mal beschäftigt hatten, und gehe einen Schritt weiter. Mein zweites Beispiel betrifft die Angst. 

Das Reale in der Terminologie von Jacques Lacan ist ein Begriff, der zusammengehört mit

zwei anderen Begriffen: dem Symbolischen und dem Imaginären und der auch nicht unabhängig von diesen beiden anderen Begriffen gedacht werden kann.

Zusammen bilden die drei Dimensionen des Realen, Symbolischen und Imaginären ab, wie menschliche Subjekte unter Berücksichtigung des Unbewussten strukturiert sind. Lacan hat es als eine Art Knoten aufgefasst, in dem die drei Dimensionen sich verknüpfen.[5]

Dieses Modell ist auch nützlich, wenn es um Situationen der Krise geht: Krisen sind dann beschreibbar als Situationen, in denen die Verknotung auseinanderbricht. Wenn etwas vom Realen also sich direkt manifestiert, ist dies ein Moment der Krise. Im «Normalbetrieb» ist das Reale so im Knoten eingebunden, dass man nichts davon merkt.

Diesen zweiten Aspekt des Realen möchte ich wieder anhand eines Beispiels plastischer werden lassen. Dafür greife ich auf ein Erlebnis des südafrikanischen Künstlers William Kentridge zurück. Kentridge hat 2017 die Sigmund Freud-Vorlesung im Wiener Burgtheater gehalten, die vom Freud-Museum jedes Jahr anlässlich von Freuds Geburtstag organisiert wird. Dort hat er folgendes Erlebnis erzählt:

«Vor einigen Jahren rief ich zwei Freunde an, ein Paar, und fragte Basil, der am Apparat war, was Adrian, der andere Freund, gerade so machte. Basil sagte: « Oh, hm, Adrian macht eine tree search.» Und ich dachte: «Was ist eine tree search? Ich weiss nicht, was eine tree search ist.» Dies verunsicherte mich ein wenig, und dann dachte ich auf einmal: «Ach ja, natürlich, tree search, das ist doch so ein Internetbegriff. Man beginnt bei einem Wort und folgt davon ausgehend den Verzweigungen in unterschiedliche Richtungen, man folgt einem Unterast usw. Das ist eine tree search. Man kann die Suche auf unterschiedliche Weise verfeinern und – natürlich, natürlich weiss ich, was eine tree search ist.» Am Ende unserer Unterhaltung fragte ich Basil: «Wonach sucht Adrian eigentlich?» Und er antwortete: «Was meinst du?» Ich sagte: «Naja, du hast ja gesagt, dass er eine tree search macht.» Er darauf: «Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, er macht ein T-Shirt.» Was in dem Moment – denn es ist ein Moment – passierte, ist, dass eine Angst aufkam, die Welt (oder dieses Wort) nicht zu verstehen; und eine Panik, die einen imaginativen Sprung hervorrief, um die Lücke zu schliessen, um das zu überspringen, was wir nicht wissen. Und im selben Moment, in dem ich mich für meine Dummheit verfluche und mich gleichzeitig als besonders klug empfinde, weil ich es natürlich verstanden und mir alles zurechtkonstruiert habe, hätte ich einen Aufsatz über das Wesen der tree search, inklusive Diagramme, verfassen können. Für mich ist das ein gutes Beispiel dafür, dass wir nicht der Versuchung widerstehen können, die Lücken zu füllen, der Welt Sinn abzugewinnen und der Welt selbst in ihrer unverständlichen Form zu begegnen, in der sie auf uns zukommt.»[6]

Das Beispiel zeigt einen Moment der Heterotopie, einen aufklaffenden Spalt im imaginären Kontinuum der Vorstellungen und der Sinngebung. Eine Lücke, die plötzlich aufbricht und sich sogleich wieder schliesst, bezeugt vom Affekt der Angst. In diesem flüchtigen Moment der Diskontinuität taucht nicht eine andere Vorstellung auf, es taucht auch nicht eine «nackte Wahrheit» oder dergleichen auf, auch nicht eine präreflexive oder vor jeder Vorstellung angesiedelte «reine Faktizität», sondern es ist ein unheimliches und plötzliches Ergriffenwerden davon, dass das, was uns sonst als Welt und Realität geläufig ist, seine scheinbare Natürlichkeit und Sinnstiftung verloren hat. Und sofort ordnet sich das Material neu und man ist wieder auf gewohntem, scheinbar sicheren Boden.

Vorher fester Boden, nachher fester Boden und dazwischen hat sich, bezeugt durch die Angst, etwas Reales ereignet. Das Reale wird fassbar nur als der flüchtige Moment der Auflösung, der uns alles andere als kalt lässt – und sogleich wieder in gebundenere Gefühle mündet.[7]

III Das Reale als «Kern»

Freud hat in jungen Jahren, im Entwurf einer Psychologie (1995) festgehalten, dass wir unsere Nächsten und uns selbst nie ganz zu erkennen und verstehen vermögen. Er hat zwei Bestandteile gesondert, «von denen der eine durch konstantes Gefüge imponiert, als Ding beisammenbleibt, während der andere durch Erinnerungsarbeit verstanden […] werden kann».[8] Unsere Nächsten also sind uns ähnlich – «Meinesgleichen» – und fremd – «Ding» – zugleich. Das nämliche gilt für uns selbst. Etwas an uns selbst bleibt «Ding»: unvorstellbar und unkommunizierbar – real, halt, könnte man sagen.

Dazu mein drittes Beispiel:

Ein Mann, der ein erfolgreiches Berufsleben als höherer Richter hinter sich hat, gibt mit 70 Jahren noch gelegentlich Kurse an verschiedenen Universitäten. Er fühlt sich manchmal überfordert, inhaltlich nicht mehr up to date und schlecht vorbereitet und er kommt mit der Technik nicht immer klar. Stehen solche Kurse an, gerät er in depressive Verstimmung. Aber er lässt sich immer aufs Neue einladen und kann nicht aufhören. Seinen Freunden und seinem Therapeuten verkündet er in den depressiven Momenten unermüdlich, dass er sich durchs Leben durchbeschissen habe und jetzt endgültig lächerlich sei. Das hält er für seine eigentliche, nackte Wahrheit. Aber ausser ihm hat niemand einen so vernichtenden Blick auf ihn selbst.

In den Phasen, in denen es ihm besser geht, schreibt er Texte, die Sachthemen mit persönlichen Berufserfahrungen verbinden. Er hält diese Arbeiten für durchaus relevant, auch wenn er nie ganz sicher ist, ob es nicht doch Hochstapelei und nur leeres Gerede sei. Das Gefühl des Mangels, des Versagens lässt ihn nie ganz los. Es ist ein ruheloses Hin und Her: Wenn er produziert, fühlt er sich «ausgeliefert» und möchte am liebsten nichts mehr müssen. Wenn er nicht produziert, ist das ein Eingeständnis, dass er gescheitert ist, lächerlich und ein Versager.

Er ist ein Mann des Wortes, des Redens und Schreibens. Das Wort aber hat für ihn die Bedeutung eines Lügengespinstes, eben des sich «Durchbescheissens», eines lebenslangen Versuches, ein Mäntelchen zu schaffen, um seine Ohnmacht, Hilflosigkeit und sein Ausgeliefertsein zu verbergen. Jetzt, alt geworden, könne er sich vor dieser Wahrheit nicht mehr verstecken und sein falsches Lebensgerüst sei eingestürzt, darum sei er depressiv, ja manchmal suizidal.

Kann man dem Mann unrecht geben? Er ist ein strenger und unbestechlicher Richter seiner selbst. Er trifft etwas Wahres, etwas, von dem Nietzsche aber auch gesagt hat: «Kalt auf die Dinge sehen, so dass sie nackt und ohne Flaum und Farbe daliegen – das nennt sich «Liebe zur Wahrheit», und ist nur die Ohnmacht zu lügen.»[9]

Was ist seine Geste: Er versucht, hinter Tand, Schein, Verkleidung und Rhetorik den wahren Kern zu finden. Kommt dieser Mann also dem Realen nahe? Hat er die Wahrheit gefunden? Nein, gewiss nicht: sein depressiver Diskurs ist genauso ein Mäntelchen, ein Narrativ, wie es das, was er «Durchbescheissen»  nennt, auch ist. Der Unterschied ist nur, dass das zweite eine Manifestation des Ichs ist, während das erste, das Depressive, unter dem Diktat des Über-Ichs steht[10] Alle Diskurse haben eine Abwehrfunktion und sind darum nie ganz wahr, sie glätten, überspielen, erklären Lücken weg, begreifen das Unbegreifliche und so weiter. Aber es gibt keine Alternative dazu.

Lacan spricht von einem Schirm vor dem Realen.

Alle Diskurse sind ein Schirm vor dem Unerkennbaren. In Freuds Sprache: vor dem immer schon Verlorenen, vor dem Urverdrängten, das nie ganz erfasst und erreicht werden kann. Aber sie sind eben auch ein Schirm im zweiten Wortsinn, ein Schirm wie der Bildschirm des Computers, auf dem sich überhaupt etwas einschreiben lässt und wo überhaupt erst eine psychische Repräsentanz gebildet werden kann. Vor-stellung als das, was überhaupt gesagt, gedacht, phantasiert usw. werden kann; und Vor-stellung als das, was davor steht.

So kann ich jetzt zu einer letzten Bestimmung des Realen kommen, die – es wird Sie nicht mehr wundern – auch negativ formuliert ist: Das Reale ist das, was sich nicht im Symbolischen und nicht im Imaginären fassen lässt; das, was nicht sprachlich symbolisiert werden kann und was nicht in irgendeiner Vorstellung – Phantasie, Gedanke usw. – erfasst werden kann.    

Es kann im Symbolischen der Sprache nicht ganz erfasst werden und im Imaginären der Vorstellungen und Phantasien und der Identifizierungen und Selbstzuschreibungen nicht ganz Ausdruck finden. Es ist nie ganz einholbar und hat so damit zu tun, dass wir Suchende, Fragende, nie ganz Fertige sind.

IV Das Reale und der Herrendiskurs

Bevor ich zu meinem letzten Punkt komme, fasse ich das soeben Gesagte nochmals zusammen.

Das Reale ist eine Kategorie, die sich nur erschliesst als Element einer Trias, der Trias von real, symbolisch und imaginär. Man kann zwar jedes dieser Elemente bestimmen, aber man kann sie nicht voneinander isolieren.  Man kann das Reale in Bezug auf die beiden anderen Elemente, auf das Symbolische und das Imaginäre nur negativ bestimmen:

Aus der Perspektive des Symbolischen erscheint das Reale als das, was nicht geschrieben und nicht gesagt werden kann, was, so könnte man auch sagen, keine Unterscheidung und keinen Namen hat.

Und aus der Perspektive des Imaginären erscheint das Reale als das, was nicht vorgestellt werden kann. Es hat kein Spiegelbild und kann nicht mit irgendetwas anderem verglichen werden. 

Das bedeutet, dass es keinen irgendwie materiell – räumlich oder zeitlich – festmachbaren Bereich gibt, wo wir dem Realen begegnen könnten. Nichts Ontisches ist als solches real. Ich habe es am Anfang schon gesagt: Das Reale ist nicht das, was wir «Realität» nennen.

Das einzige, was man sagen kann, ist: es wirkt, es ist «da», «es ist, was es ist» – Reales.

Allerdings, und das ist mein letzter Punkt, gibt es da eine Falle. Man muss berücksichtigen, dass die drei Begriffe – real, symbolisch, imaginär – verknotet sind. Man kann zwar schon sagen: «Es ist, was es ist» als eine Art Formel für das Reale. Aber wenn man das sagt, ist man bereits im Symbolischen, im Sagen eben. Und dann stellt sich die Frage: Wer sagt? Wer kann «It is, what it is» sagen? Wer kann eine solche Setzung vornehmen? Die klassische Antwort ist: Gott oder irgendein Herr und Meister, der sich als sein Stellvertreter gebärdet.

Man ist also, sobald man dies sagt, nicht mehr beim Realen, sondern in einem Herrendiskurs.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel, das die Virulenz des Problems verdeutlicht:

Nach der Ermordung des saudi-arabischen Journalisten Kashoggi hatte die CIA eindeutige Hinweise auf eine Mittäterschaft des saudischen Kronprinzen festgestellt. Der damalige amerikanische Präsident Trump, der kein Interesse daran hatte, daraus irgendwelche Sanktionen gegen Saudi-Arabien abzuleiten, beendete die Abklärungen mit dem Satz: «It is, what it is». Er sagte nicht: «wir werden es nie sicher wissen», oder: «wir müssen unbedingt die Schuldigen finden» etc. Sondern er beendete mit diesem Satz die Diskussion, indem er das Geschehene als scheinbar «real» setzte, als schlichtes Faktum: es ist einfach, was es ist. Als etwas also, das man nicht weiter erforschen und begreifen kann, sondern das man einfach hinnehmen muss.

Das ist ein gutes Beispiel für den Herrendiskurs: Dieser macht das Faktische zu etwas, das nicht weiter hinterfragt werden muss, das eine in sich tautologische Totalität ist, ausserhalb des Symbolisier- und Erkennbaren. D.h. man kann nichts darüber aussagen und braucht folglich nicht weiter darüber nachzudenken. Es ist nicht einfach eine Lüge, sondern eine Umverteilung der Grenzziehung: Was Trump nicht passt, wird hinter die Mauer des Diskurses geschoben und stumm gemacht. Wenn das, was wirklich geschah, auf eine nicht weiter zu erklärende oder erkennbare «reale» Tautologie reduziert wird, braucht man sich nicht weiter darum zu kümmern – und kann es folglich ohne Skrupel verleugnen.

Also: wenn jemand sagt, «so ist es halt», «das ist halt die Realität», so führt er einen Herrendiskurs, der letztlich zum Schweigen auffordert und mit dem das Nicht-Denken beginnt. Von den Vätern, die die Kinder, die ihnen Löcher in den Bauch fragen, nicht mehr aushalten, bis zu den Herren in der Weltgeschichte, sichern sich alle immer wieder gerne ihre Position, indem sie sagen: «So ist es nun mal».


[1] S. Freud, Jenseits des Lustprinzips, GW XIII, 21

[2] Wenn es um den üblichen Beziehungsknatsch geht, wenn Menschen immer wieder in die gleichen Konflikte geraten, leuchtet uns das schnell ein. Und als Therapeuten denken wir, wenn wir solche Wiederholungsgeschichten hören: das ist der Beginn einer wunderbaren Übertragung, daran lässt sich arbeiten.

[3] Ibid.

[4] «Im Folgenden geht es darum, den Ort des Realen zu bestimmen, der vom Trauma zum Phantasma führt – sofern nämlich das Phantasma immer nur einen Schirm darstellt, dessen Funktion es ist, ein absolut Erstes, in der Funktion der Wiederholung Determinierendes jedem Zugriff zu entziehen.» J. Lacan, Seminar XI, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, übers. N. Haas, Walter: Olten 1978, 66

[5] Und zwar so verknüpfen, dass man keine der einzelnen Dimensionen herauslösen kann, ohne dass der Knoten auseinanderfällt – ein borromäischer Knoten heisst das bei Lacan.

[6] W. Kentridge, In Verteidigung der weniger guten Idee, Wien: Turia+Kant 2018, 57f

[7] In der Analyse können wir zwei Typen von Interventionen unterscheiden, die auch wieder subtil miteinander verknüpft sind: die deutende oder, wie man vielleicht auch sagen könnte, greifende und die schneidende Intervention. Wenn sie gelingen, zeigt sich die borromäische Verknüpfung: «Der Borromäismus», schreibt Jean-Claude Milner, «existiert nur durch den Augenblick der Auflösung der Verknotung, in dem sich die Ringe durch einen einzigen Schnitt zerstreut finden.» Was sind das für Augenblicke, deren Struktur man als Auflösung des borromäischen Knotens begreifen kann? Flüchtige Augenblicke, die uns alles andere als kalt lassen, und die wir sogleich wieder in gebundenere Gefühle münden lassen. Neben der Skandierung der Interpretation in der analytischen Sitzung sind es, ich folge Milners Systematik, die folgenden Figuren: Das «Hervorschiessen des Sinns», die «Spalte des Erwachens zwischen zwei Reihen gleichermassen imaginärer Vorstellungen, Traum und Wachzustand», und der «Zusammenprall der Begegnung».

Milner leitet davon einige Schwierigkeiten der Analyse ab: «man versteht, dass manch ein Subjekt sich davon abwendet wie vom absoluten Schrecken, und ohne Unterlass davor zurückweicht, auch nur den geringsten knotenlösenden Schnitt auszuführen: Wurzel aller Aufschübe wie auch der Unendlichkeit der Analyse». Alle Zitate aus: Jean-Claude Milner, Die nicht zu unterscheidenden Namen, übers. M. Coelen, Turia+Kant: Wien, 2014, 14ff

[8] S. Freud, GW Nachtragsband, 426f

[9] WW, XIV 12, KSA 10,82; zit. n. Hans Blumenberg, Die nackte Wahrheit, suhrkamp, Frankfurt am Main 2019, 18

[10]  Diesen Willen, sich bloss zu stellen, Willen zur Wahrheit um jeden Preis, hat Nietzsche, um ihn nochmals zu zitieren, als «Jünglings-Wahnsinn» und als schlechten Geschmack bezeichnet. WW XVII 299, KSA 6,438, zit. n. H. Blumenberg, op. cit., 25